Unerhörte Entdeckungen und neue Sichtweisen

Ein Rückblick auf bemerkenswerte Neuerscheinungen von 1999

von Eckhard Weber

Bei den interessantesten Neuerscheinungen des Phono-Marktes im letzten Jahr lassen sich zwei Tendenzen feststellen: Das gängige Repertoire wurde durch Ersteinspielungen von vergessenen Werken ausgeweitet. Engagierte und teils experimentelle Interpretationen ließen Bekanntes in einem neuen Licht erscheinen.

Lateinamerika bot zweifellos die spannendsten Entdeckungen. Esa-Pekka Salonen hat mit der Ersteinspielung Sensemaya mit Kompositionen des mexikanischen Komponisten Silvestre Revueltas einen vergessenen Vertreter der klassischen Moderne endlich ins rechte Licht gerückt; The Harp Consort zeigten mit Tomás de Torrejóns La púrpura de la rosa, daß im fernen Lima die Barockoper mindestens genausoviel Feuer hatte wie die venezianischen Modelle. Dies ist eine neue Erkenntnis, wenn man bedenkt, daß auf der einzigen bis dato existierenden Aufnahme von 1990 unter René Clemencic (Nuova Era 6936) das Werk eher hutzelig und hölzern wirkte.

Andreas Staier bereicherte das Repertoire mit der Produktion Variaciones del Fandango gleich um eine ganze Reihe unbekannter Komponisten vorwiegend spanischer Herkunft. Jan Garbarek und The Hilliard Ensemble demonstrierten mit Mnemosyne, daß sie mit Officium noch längst nicht alles gesagt haben. Eines der aufsehenerregendsten Beispiele von künstlerischer Selbstkritik stellte Györgi Ligetis Überarbeitung seiner Oper Le Grand Macabre dar. Die revidierte Version ist letztes Jahr bei Sony erschienen und kann nun mit der Aufnahme der ursprünglichen Fassung von 1991 (Wergo WER 6170-2) Track um Track verglichen werden.

Die krisengeschüttelte Tonträgerindustrie hat offenbar die Zeichen der Zeit erkannt: Die Kundschaft möchte nicht die zehnte Einspielung von Brahms oder Beethoven haben, sondern sucht Unerhörtes, sei es aus alter oder neuer Zeit.

 

 

Eckhard Weber promovierte an der Freien Universität Berlin über das Thema »Manuel de Falla und die Idee der spanischen Nationaloper« (Frankfurt, Peter Lang Verlag, 2000). Er ist seit mehreren Jahren als freier Autor und Journalist tätig und schreibt regelmäßig Rezensionen in Die Deutsche Bühne, Opernwelt, Crescendo, Kölner StadtRevue, Bonner Generalanzeiger und Matices.